Schicksalsjahr 1917:
Russlands große Revolutionen


In nur neun Monaten des Jahres 1917 wurde das Russische Reich von zwei Revolutionen erschüttert, die das Schicksal des Landes für immer veränderten: Im Februar wurde die Monarchie zu Fall gebracht, im Oktober entrissen die Bolschewiki den letzten moderaten Kräften die Macht. Es folgten ein blutiger Bürgerkrieg und siebzig Jahre Sowjetunion.
Oleg Jegorow, RBTH
Rodzianko flehte den Zaren an, der damals den militärischen Oberbefehl im Ersten Weltkrieg führte, zur konstitutionellen Monarchie zu wechseln, eine Regierung zu gründen, die der Duma unterstehen würde, und auf diese Weise das Volk zu beruhigen. Doch der Zar war sich sicher, dass die Petrograder Soldaten den Aufstand unterdrücken würden, und ignorierte Rodziankos Briefe. Das war ein Fehler. „Schon wieder hat mir dieser Fettwanst Rodzianko irgendeinen Blödsinn geschrieben, darauf werde ich gar nicht erst antworten." So reagierte der russische Zar Nikolai II. auf die besorgniserregenden Mitteilungen des Duma-Vorsitzenden Michail Rondzianko, der am 11. März 1917 (nach julianischem Kalender am 26. Februar 1917) dem Zaren über die kritische Lage in Petrograd (dem heutigen Sankt Petersburg) berichtete: In der Hauptstadt wüteten Revolten.

Rodzianko flehte den Zaren an, der damals den militärischen Oberbefehl im Ersten Weltkrieg führte, zur konstitutionellen Monarchie zu wechseln, eine Regierung zu gründen, die der Duma unterstehen würde, und auf diese Weise das Volk zu beruhigen. Doch der Zar war sich sicher, dass die Petrograder Soldaten den Aufstand unterdrücken würden, und ignorierte Rodziankos Briefe. Das war ein Fehler.
- Bis Januar 1918 galt in Russland der julianische Kalender, der 13 Tage hinter dem gregorianischen Kalender liegt.

- Deswegen fanden aus heutiger Sicht die Februarrevolution eigentlich im März und die Oktoberrevolution im November statt. RBTH führt die Datumsangaben nach dem gregorianischen Kalender auf, die alten Daten stehen in Klammern.
Zar Nikolai II. im Hauptquartier des militärischen Oberbefehlsstabs in Mogilew während des Ersten Weltkriegs.
Denn auch die Regierungstruppen liefen zu den Aufständischen über. Am 13. März (28. Februar) erhielt Nikolai II. die Nachricht, dass Petrograd verloren sei. Am 15. März (2. März) dankte der Zar ab und ernannte seinen Bruder Michail zum Zaren. Generale überzeugten ihn, dass sein Rücktritt zugunsten des Landes sei.

„Alles nur Verrat, Feigheit und Betrug!", schrieb der abgesetzte Zar enttäuscht in sein Tagebuch. Sein Bruder Michail dankte nach nur zwei Tagen am 18. März (5. März) ebenfalls ab und so endete die 300-jährige Herrschaft der Romanow-Dynastie.
Hungersnot bringt Revolution
Der fatale Aufstand hatte zehn Tage zuvor begonnen, am 8. März (23. Februar), den heutigen Weltfrauentag: Die Weberinnen legten im Wyborgskij-Bezirk in Petrograd aus Protest ihre Arbeit nieder. Die Unruhen verbreiteten sich schnell in der ganzen Stadt. 90 000 Menschen, so schreibt der Historiker Georgy Katkow in seinem Buch „Februarrevolution", nahmen am ersten Tag an den Protesten teil.

Zeitzeugen berichteten, wie plötzlich die Revolution ausgebrochen sei. „Niemand konnte vorhersehen, dass der Weltfrauentag zum ersten Tag der Revolution würde", schrieb Leo Trozki, Autor der „Geschichte der russischen Revolution" und einer der Anführer der Bolschewiki.

Ursprünglich sei es den Demonstranten um Brot gegangen, wie der Historiker Katkow betont. In Petrograd herrschte Lebensmittelknappheit und im Winter kam es zu noch nie zuvor gekannten, unendlich langen Warteschlangen vor Bäckereien. Es folgten politische Parolen: „Nieder mit dem Krieg!" und „Nieder mit der Zarenherrschaft!".
Einwohner stehen vor einem Lebensmittelladen in Petrograd (heute Sankt Petersburg) Schlange, 1917.
Die Proteste wuchsen von Tag zu Tag. Demonstranten begannen, sich mit der Polizei zu prügeln, und die Regierung beschloss, ihre Truppen einzusetzen. Am 11. März (26. Februar) schrieb der Duma-Abgeordnete und zukünftige Minister Alexander Kerenski: „Die Revolution ist vorbei!" – er erwartete die Unterdrückung des Aufstands durch die Armee. Doch am nächsten Tag liefen die Soldaten massiv zu den Aufständischen über. Offiziere, die sich weigerten, sich dem Aufstand anzuschließen, wurden von ihren Soldaten erschossen. Die Revolte erreichte nach und nach sämtliche Regimenter in der Stadt, und so war der Sieg der Revolution beschlossen.
Ursachen für die Februarrevolution
So unerwartet die Revolution für die Zeitgenossen auch gekommen sein mag, so bewerten die Historiker heute – 100 Jahre später – die Ereignisse als eine folgerichtige Entwicklung. Ende Februar 1917 kulminierte eine Reihe von Faktoren, die die bereits vergiftete Atmosphäre noch weiter anheizten und so die Bühne bereiteten für einen radikalen Umsturz.
1. Kriegsmüdigkeit
Im August 1914 begann der Erste Weltkrieg, der in der russischen Gesellschaft zunächst für Begeisterung sorgte: ein Volk vereint, gemeinsam hinter dem Zaren und hinter der Idee, das Vaterland zu verteidigen. Nach drei langen Kriegsjahren, die große Opfer gefordert hatten (allein 1916 hatte Russland mehr als zwei Millionen Tote und Verletzte zu beklagen) schlug die Stimmung im Volk um.

„Der Glaube an Erfolg und das Vertrauen in die Regierung sind erschüttert", fasste der Historiker Nikolai Golowin die Atmosphäre in der Gesellschaft zusammen.
Ein russischer Soldat des sogenannten Angriffsbataillons versucht, fahnenflüchtige Kameraden im Ersten Weltkrieg aufzuhalten.
2. Wirtschaftliche Probleme
Der Schriftsteller Wiktor Schklowski sah im Februar 1917 die Petersburger Bewohner in Schlangen stehen und „sehnsüchtig" auf einfaches Brot schauen. Erstaunlicherweise lag die katastrophale Versorgungslage zu Beginn der Revolution gar nicht an einer Lebensmittelknappheit, sondern an logistischen Problemen – alle Lebensmittel wurden direkt an die Front geliefert. Hinter der Frontlinie – im Hinterland genauso wie in der Hauptstadt – wurden die Brotrationen immer knapper. Am Ende elektrisierte die Hungersnot ganze Menschenmassen.

„Die Industrie war der Aufgabe nicht gewachsen. Lebensmittelknappheit und schlecht ausgebaute Eisenbahnen waren die Ursachen für das Leiden der städtischen Bevölkerung in der zweiten Hälfte des Kriegs", schreibt der Historiker und Ökonom Michail Florinski.
Anstellen für Brot.
3. Politische Krise
„In der Hauptstadt rechnet man sowohl mit revolutionären Aufständen als auch mit einem Umsturz", hieß es in einem Bericht im Januar 1917 an den russischen Außenminister. Der Zar und seine Familie waren unpopulärer denn je. Die Staatsduma rief Nikolai II. auf, eine konstitutionelle Monarchie einzuführen und die Regierung dem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig zu machen.

Doch der Zar ignorierte alle Forderungen. Das Volk hielt Nikolai für einen unfähigen Herrscher und seine deutsche Frau Alexandra für eine deutsche Spionin. Das Zarenpaar reagierte auf keine Kritik und schottete sich immer weiter ab.
Eine fragile Doppelherrschaft
Nach dem Ende der Monarchie im März übernahmen zwei voneinander unabhängige Organe die Macht – die Provisorische Regierung und die Sowjets (Soldatenräte).

Die Provisorische Regierung bestand aus ehemaligen Abgeordneten, die überwiegend gemäßigt liberal waren. Sie strebten nach einer verfassungsgebenden Versammlung, die die Zukunft des Landes, die Staatsform sowie eine neue Verfassung bestimmen sollte. Die Provisorische Regierung baute auf Patriotismus und plädierte für den Krieg „bis zum Sieg".
Die Provisorische Regierung: der Vorsitzende, Fürst Georgy Lwow (Zweiter von links), und der Seeminister Alexander Kerenski (Zweiter von rechts) mit Generälen.
Die Sowjets hingegen waren gewählte Organe, die „von unten" bestimmt wurden – sie waren direkt in den Werken, Fabriken und Garnisonen gewählt worden, die Mehrheit der Stimmen gehörte den Sozialisten. Eine zentrale Rolle spielte der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der in den ersten Tagen der Revolution gegründet wurde und im Volk sehr populär war.
Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten
im Taurischen Palais, Russland
Die Provisorische Regierung regierte offiziell „nach Absprache" mit dem Petrograder Sowjet. In der Tat konkurrierten die zwei Strukturen eher miteinander und das fragile System der Doppelherrschaft war zur Niederlage verdammt. Es endete im Juli 1917, als die Provisorische Regierung unter Leitung von Alexander Kerenski die Macht übernahm. Diese Herrschaft endete jedoch sehr schnell – schon am 7. November (25. Oktober) wurde die Regierung von den Bolschewiki gestürzt.
Leben in Chaos und Freiheit
Die Zeit zwischen den zwei Revolutionen war voller Widersprüche. Das Ende des alten Regimes bedeutete für die Gesellschaft eine früher unvorstellbare Freiheit: Neue politische Parteien wurden erlaubt und die Presse- und Versammlungsfreiheit wurden verkündet. Andererseits herrschte Chaos im Land. Die Provisorische Regierung und ihre Gegner kämpften um die Macht, die alltäglichen Geschäfte blieben dabei auf der Strecke.
Vertreter militärischer Truppen erhalten Exemplare der Zeitung „Izwestija Petrogradskogo Soweta rabotschich i soldatskich deputatow" („Nachrichten des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten").
„Raub, Schießereien, Lynchjustiz und Mord gehörten zum Alltag. Das ganze Land versank in Anarchie", schrieb der Seekadett Nikolai Reden. Dasselbe berichtet auch John Reed, US-amerikanischer Journalist und Autor des Buchs „Zehn Tage, die die Welt erschütterten": „Das riesengroße Russland gebar in Qualen eine neue Welt." Auch Reed erzählt von Schießereien auf den Straßen, aber gleichzeitig schreibt er vom Entstehen eines neuen Menschen: „Im neuen Russland konnte jeder wählen, es gab Arbeiterzeitungen, Sowjets und Berufsverbände."
Von Februar bis Oktober
Die ultralinke Partei der Bolschewiki wurde zu der Macht, die die Provisorische Regierung absetzte. Kopf der Bolschewiki war der ehemalige politische Exilant Wladimir Lenin, der am 16. April (3. April) aus der Schweiz nach Petrograd zurückgekehrt war und sofort eine radikale Politik propagierte. In seinem Programm mit dem Titel „Aprilthesen" rief Lenin zur sofortigen Beendigung des Krieges, Enteignung des Großgrundbesitzes und der Landaufteilung sowie zum Machtwechsel zugunsten der Sowjets auf. Damals bekam Lenin noch keine Unterstützung.
Im April 1917 sicherte Pavel Miljukov, Außenminister und Mitglied der Provisorischen Regierung, seinen Verbündeten in einer Note zu, dass Russland allen Verpflichtungen nachgehen und den Krieg bis zum Sieg führen werde. Diese Aussage zog einen Wutausbruch des Volkes nach sich, das kriegsmüde war – zwei Tage lang wurde demonstriert und protestiert. Das Volk forderte ein Ende des Krieges, die Auflösung der Regierung und eine Machtübergabe an die Sowjets. Diese Krise konnte noch gelöst werden – Minister Miljukov wurde entlassen und gemäßigte Sozialisten – wenngleich auch keine Bolschewiki – wurden in die Regierung aufgenommen.
Eine weitere Krise brach im Juli aus. Die Bolschewiki schickten am 16. bis 18. März (3. bis 5. Juli) bewaffnete Matrosen, Arbeiter und Anarchisten auf die Straßen, die „Alle Macht den Sowjets" riefen und die Truppen der Provisorischen Regierung provozierten. Die Regierung löste die Aufstände mithilfe loyaler Truppen auf. Daraufhin wurden die Bolschewiki als deutsche Spione gebrandmarkt und verboten. Lenin floh nach Finnland. Der Minister und Vorsitzende der Regierung Alexander Kerenski übernahm die Macht.
Nach dem linken Schlag kam der Schlag von rechts. Am 25. August (7. September) marschierte der oberste Kriegsherr General Lawr Kornilow nach Petrograd, wo er eine Militärdiktatur verkünden wollte – eine gemeinsame Absprache mit Kerenski. Doch der Regierungsvorsitzende, der nun um seine Macht bangte, brach das Bündnis und lief zu den Linken über. Mithilfe rehabilitierter Bolschewiki konnten Kornilows Truppen aufgehalten werden. Der Ruf Kerenskis war allerdings beschädigt.
Triumph der Bolschewiki
„Wir, die Alten, werden wohl die Kämpfe der kommenden Revolution nicht mehr miterleben", hatte der damals inoffizielle Bolschewiki-Anführer Lenin im Januar 1917 gesagt. Da war er noch im Exil in der Schweiz und rechnete damit, dass er am politischen Kampf nicht teilnehmen würde. Doch Ende Oktober war er es, der den revolutionären Aufstand gegen die Provisorische Regierung und gegen Kerenski anführte.

Diesmal war die Revolution erfolgreich und wurde von Sowjets und Armee gleichermaßen unterstützt. In der Nacht vom 7. auf den 8. November (25. auf den 26. Oktober) besetzten Revolutionäre die zentrale Post und Telegrafenstation und überfielen den Winterpalast, in dem die Regierung tagte. Kerenski floh heimlich aus der Stadt, andere Minister wurden verhaftet.
Der Überfall auf den Winterpalast.
Nach der erfolgreichen Machtübernahme durch die Sowjets veröffentlichten die Bolschewiki zwei Dekrete – das „Dekret über den Frieden" und das „Dekret über Grund und Boden". Das erste Dekret verkündete den „sofortigen Friedensabschluss ohne Annexionen oder Kontributionen" und das zweite Dekret enteignete die Grundbesitzer und übergab deren Grund und Boden – über den Staat – an die Bauern. Das private Eigentum von Grund und Boden wurde verboten.
Bauern lesen in der Zeitung von Lenins Dekreten über Frieden, Grund und Boden. Am 10. November 1917 wurde zum ersten Mal überhaupt ein Dekret in einer Zeitung veröffentlicht.
Das Schicksal Russlands lag nun in den Händen der verfassungsgebenden Versammlung, die im Januar 1918 einberufen wurde. Die Bolschewiki, die keine Mehrheit in der Versammlung bildeten, aber die Lage praktisch kontrollierten, wählten eine andere Option. „Die Wache ist müde", sagte der Anarchist und Chef der Wache Anatoly Zheleznjakov zu den Abgeordneten, während er seine Waffe in den Händen hielt, und löste so die erste und letzte Sitzung am 19. Januar (6. Januar) auf. Am nächsten Tag machten die Bolschewiki die Auflösung der Versammlung bekannt und sicherten sich auf diese Weise die Macht.
Warum haben sie gesiegt?
1917 waren die Bolschewiki alles andere als die größte Partei Russlands, die auch noch die radikalsten linken Ansichten vertrat. Historiker glauben, der Erfolg von Lenin und seinen Mitstreitern liegt in ihrer großen Disziplin in der Partei und ihrem Willen, dem Volk alles hier und jetzt zu geben, ohne auf den Sieg im Krieg oder auf die verfassungsgebende Versammlung zu warten. Das Volk forderte hauptsächlich Frieden und Boden. Sobald sie an die Macht kamen, verkündeten die Bolschewiki Frieden und Boden.
„Die Frage des Friedens war damals gleichbedeutend mit der Frage der Macht. Wer dieses Problem löst und ein konkretes Programm hat, der wird Russland regieren. So ist es auch gekommen", meint der Historiker Igor Grebenkin. Die Bolschewiki hätten einen Gegenpol zur Provisorischen Regierung dargestellt, erklärt der Experte. Letztere hätten viel zu große Angst gehabt, diese globalen Probleme überhaupt anzusprechen – was den Bolschewiki am Ende den Sieg gesichert habe.

„Jeden Moment ist unsere Partei bereit, die Macht in vollem Maße zu übernehmen", sagte Lenin im Juni 1917 während einer Sitzung der Sowjets. Damals wurden die Bolschewiki von den Zuhörern noch ausgelacht. Doch nur wenige Monate später lachte niemand mehr: Die Bolschewiki übernahmen die Macht und das in wirklich vollem Maße. Bis zum endgültigen Sieg war es dann auch nicht mehr so weit: Aus dem Bürgerkrieg, der bis 1923 dauerte und etwa 13 Millionen Menschen das Leben kostete, gingen die Bolschewiki ebenso siegreich hervor. Im Dezember 1922 verkündeten sie die Gründung des ersten sozialistischen Staates der Welt: die Sowjetunion. Die Herrschaft der Kommunisten währte knapp 70 Jahre.
Text von Oleg Jegorow, Alexej Timofejtschew
Lektorat von Carolin Sachse
Bilder: RIA Novosti; Getty Images; Global Look Press;
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